Der Alltag einer Zuchtfarm-Ratte
Ein Tag wie jeder andere. Das gleißende Licht aus den Neonröhren blendet mich, denn in meiner Box habe ich nichts, worin ich mich verkriechen könnte. Das Streu am Boden ist verunreinigt von meinem Kot und Urin und klebt an mir, wenn ich mich hineinlege. Ich habe alles auf einen Haufen geschoben, um eine möglichst saubere Ecke zu behalten. Ich bin seit 20 Tagen tragend.
Das Futter im Gitter über mir ist alle. Ich habe mir die Pellets so gut es ging aufgespart, aber mein Körper verlangt Nahrung, damit meine Babys gesund bleiben. Ich konnte nicht anders und habe alles aufgegessen. Neues gibt es nicht - das weiß ich.
Am nächsten Tag...
In den frühen Morgenstunden habe ich meine Babys zur Welt gebracht. Zwölf viel zu kleine rosa Würmchen. Sie piepsen laut, denn sie haben Hunger, aber ich habe nicht genug Milch für alle. Ohne Nistmaterial, aber mit meinem Körper versuche ich meine Babys zu wärmen, so gut es geht. Eins der Babys riecht merkwürdig. Ich glaube, es ist krank. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich erinnere mich nicht, dass mir meine Mama jemals beigebracht hätte, was in so einem Fall zu tun ist. Ich wurde von ihr getrennt, als ich selbst noch ein Baby war und kam in eine eigene Box. Panik steigt in mir auf. Was soll ich nur tun?
Am darauffolgenden Tag ist das Kleine tot. Es liegt blau verfärbt in einer Ecke meiner kleinen Box. Ich bin froh, dass meine anderen Babys noch die Augen geschlossen haben und diesen Anblick nicht jede Sekunde ertragen müssen, so wie ich. Ich bin ganz durcheinander.
Nach zwei Tagen sieht der Zweibeiner, der Futter in die Gitter wirft, endlich mein totes Baby. Als der Deckel sich öffnet, denke ich für eine Sekunde daran, zu entwischen, aber ich kann meine Babys nicht zurücklassen. Mein Bruder, so erinnere ich mich dunkel, verlor mit 12 Tagen seinen Schwanz, als er versuchte zu fliehen. Der Zweibeiner warf das Gitter zurück auf die Box und quetschte ihm den Schwanz. Zwei Tage später fiel er ab. Drei Tage später nahmen die Zweibeiner meinen Bruder fort.
Nein, das Risiko kann ich nicht eingehen. Ich sehe, wie der Zweibeiner mein Baby in einen Eimer mit anderen toten Babys, von anderen Mamas wie mir, wirft. Ich sage stumm Leb wohl.
Elf Tage später öffnet wieder ein Zweibeiner das Gitter. Ich weiß, was nun passiert. Es ist schon so oft passiert. Immer wieder. Der Zweibeiner greift nach meinen Babys. Ihre Augen sind inzwischen offen und sie fragen mich immer und immer wieder, wie wir alle in dieser Box leben sollen, wenn sie erwachsen sind. Ich hatte nicht die Kraft, in ihre bezaubernden Augen zu sehen und ihnen zu sagen, dass es soweit nicht kommen wird. Dass der Zweibeiner sie holen kommt. Ich bin eine feige Mutter.
Dennoch beiße ich kräftig zu, als die menschliche Hand nach meinen flauschigen Babys greift. Weil sie nicht wissen, was geschieht, lassen die Kleinen es mit sich geschehen. Ich schmecke Gummi - der Mensch trägt Handschuhe. Er spürt meinen Biss nicht mal. "Lass meine Kinder in Ruhe!", schreie ich, doch der Zweibeiner kann mich nicht verstehen. Und ich bin mir sicher, es wäre ihm auch egal, wenn er es täte.
Als er alle meine Babys fort genommen hat, liege ich in einer Ecke. Es ist so still. Genau wie beim letzten Mal. Meine Babys brauchen mich doch! Sie brauchen noch ihre Milch und wer soll sie auf das Leben vorbereiten? Die Trauer zieht mich hinab in ein dunkles Loch. Futter wird mir egal und auch trinken tue ich nichts mehr. Doch ich weiß, eine Erlösung gibt es nicht. Denn bald wird mich wieder ein Bock besuchen. Wenigstens dann habe ich Gesellschaft eines Erwachsenen. Es sind immer nette Böcke und sie kommen viel rum. Oft erzählen sie mir, dass es noch viele, viele andere Weibchen wie mich gibt. Und dass der Zweibeiner auch ihnen die Babys fort nimmt.
Ich denke oft an die vielen Babys, die man mir weg genommen hat. Und ich hoffe so sehr, dass sie ein liebes Zuhause bekommen haben. Keine Box, sondern viel Platz zum Toben und Spielen. Dass sie das haben, was eine Ratte braucht.
Die Neonröhren stechen in meinen Augen. Ich bin tragend.
© Anna Jedamczyk